Wandern im Westjordanland: Zu Gast bei Palästinensern

von Bernadette Olderdissen

Wandern im Westjordanland: Zu Gast bei Palästinensern

Das Westjordanland verbinden die meisten mit Unruhen und ganz bestimmt nicht mit Wandern. Dabei sind die Wanderwege durchs Westjordanland so alt wie die Grundsteine Jerusalems. Einer der bekanntesten Fernwanderwege ist der 330 Kilometer lange Masar Ibrahim al Khalil, der Jerusalem, Bethlehem, Jericho und Nablus durchquert. Wer ihn erwandert, lernt nicht nur ein Stück palästinensischer Natur und Kultur kennen, sondern kommt in den Genuss palästinensischer Gastfreundschaft.

Reisebericht

Abraham ist ihrer aller Stammvater – von Juden, Christen und Moslems. Man sagt ihm Großherzigkeit und Offenheit nach, eine Idee, die sich in Palästinas längstem, 2017 eröffnetem Wanderweg, Masar Ibrahim, der auf gemeinschaftsbasierten Tourismus setzt, wiederfindet. Verpflegung und Unterkunft kann man bei Einheimischen bekommen. Dabei steht jedem frei, ob er die gesamten 330 Kilometer von Rummana nordwestlich von Jenin bis nach Beit Mirsim in Hebron läuft, über Nablus, Jericho und Bethlehem, oder nur einige Etappen. Beworben wird er als „Weg durch die Geschichte“. Meine erste Etappe beginnt bei Taybeh in Ain Samia, von wo es durch Zatar-Felder geht, ein Gewürz, das oft aufs Fleisch kommt oder als Dip dient. Es empfiehlt sich, einen ortskundigen Wanderführer wie Anour mitzunehmen, der unter der Woche fürs Bildungsministerium arbeitet und am Wochenende Besucher durch seine Heimat führt. Er kennt jede Pflanze am Wegesrand: „Das ist Aronstab, gut gegen Krebs.“ Das Land in der Region sei sehr fruchtbar, die dort wachsenden Rüben, Tomaten und anderes Gemüse würden auf dem Markt in Ramallah verkauft.

Was wie graue Steine auf dem Pfad aussieht, sind in Wirklichkeit Überreste einer byzantinischen Kirche, über die Wanderer ebenso hinweglaufen wie Nomaden mit ihren Schafen und Ziegen. Hinter einem Bergrücken erreichen wir Wadi al-’Auja, das bis nach Ein al-’Auja führt und zur Al-’Auja Quelle am Jordangraben, 50 Meter unter dem Meeresspiegel. Die Quellen sind ein beliebter Picknickort für hiesige Familien, die mitsamt aller Kleidung im Wasser baden – und sich so über Ausländer in Wanderfunktionskleidung freuen, dass viele Selfies geschossen werden müssen.

Mittagessen gibt es in einem Beduinenzelt bei der Familie von Abu Habish, wo uns Kinder neugierig begrüßen. Man sitzt auf Matten auf dem Boden, in die Mitte kommt das Essen für alle: Hühnerkeulen, Reis, Salat und Jogurt-Dip.

Danach geht es weiter nach Jericho, in die tiefstgelegene Stadt der Welt, 250 Meter unterm Meeresspiegel, mit ihrem Berg der Versuchung und dem griechisch-orthodoxen Kloster Qarantal. Orte, die mir bisher nur aus der Bibel bekannt waren, bekommen langsam Gestalt – in Form von flachen, grauen Häusern und viel staubiger Erde.

Bei den Beduinen

Wer im Westjordanland wandert, übernachtet früher oder später bei Beduinen – zum Beispiel bei Beduinenführer Jameel und seiner Familie in der ‚Sea Level Community‘ am Wadi Qateef, wo der Boden im Winter und Frühjahr für die Schafe und Ziegen besonders viel Nahrung abgibt. Das Übernachten ist leicht gemacht: Man legt seine Matratze dorthin, wo Platz ist. In einem überdachten Raum des provisorischen Hauses oder im offenen Gemeinschaftszelt, sobald das Essen – Zarb, Huhnfleisch, das in einem Ofen unter der Erde gart – weggeräumt ist. Jameel und seine Familie sind weiterhin Nomaden. „Früher lebten wir in der Negev-Wüste in Israel, wurden dort aber ab 1948 nach und nach vertrieben, also siedelten wir uns in der Wildnis rund um Jerusalem an“, erzählt Jameel.

Am nächsten Morgen erwacht die Wüstenlandschaft um uns herum Goldgelb. Rund um die Hütten rollen Hügel durstig auf den Horizont zu, und bald stoßen auch wir tiefer in die Wüste vor, ins Herz der dürren Erde, begleitet von den Blicken umherstreunender Kamele. Unser Ziel: das griechisch-orthodoxe Kloster Saint Sabas, 483 gegründet. Das Kloster erhebt sich stolz aus den Felsen und bietet heute noch einigen wenigen Mönchen Unterschlupf – die es sich zumindest gutgehen lassen und Wein produzieren. Frauen dürfen nicht hinein, denn angeblich mochte der Heilige Saba keine Frauen, nicht einmal seine Mutter durfte ins Innere des Heiligtums.

Wein & Bier made in Palestine

Dass die Mönche in Saint Sabas nicht die Einzigen sind, die in Palästina Alkoholisches herstellen, habe ich bereits in dem kleinen Ort Taybeh, südlich von Nablus, erfahren. Dort eröffneten David und Nadim Khoury 1994 die erste palästinensische Mikrobrauerei, nachdem sie 20 Jahre lang in den USA gelebt hatten. Ziel war, die palästinensische Wirtschaft und das Nationalgefühl zu stärken. Obwohl Muslimen der Alkoholgenuss offiziell untersagt ist, bleibt die Hälfte des Biers im Westjordanland, ein anderer Teil geht nach Israel, ein kleiner Rest ins Ausland.

Außerdem eröffnete die Familie 2013 eine Weinkellerei und 2015 daneben das Golden Hotel, das Werke palästinensischer Künstler zeigt. Maria Khoury, Davids Ehefrau mit griechisch-amerikanischen Wurzeln, führt Hotelgäste durch die Weinkellerei mit der aus Italien importierten, hochmodernen Ausrüstung. Die Holzfässer beinhalten Rot- und Weißwein, doch leicht fällt der Familie die Weinproduktion nicht: „Wir müssen viel Wasser in Tanks sammeln, weil wir manchmal fünf Tage lang kein fließendes Wasser bekommen.“ Trotzdem setzt sie sich immer wieder über die Schwierigkeiten hinweg und erfährt aus der Gemeinde viel Unterstützung: „Im Herbst organisieren wir ein Oktoberfest, das ist eine große Party für alle – auch für die, die keinen Alkohol trinken. Dann gibt es eben alkoholfreies Bier.“

Nablus, die politische Hauptstadt

Sie gilt als politische Hauptstadt der Palästinenser: Nablus. An einem Freitagnachmittag wirkt sie wie ausgestorben, das Wochenende beginnt. Der Suq, wo sonst Händler und Käufer um Waren feilschen, liegt nahezu verwaist da, fast alle Geschäfte haben geschlossen. Überm Salatbuffet in einem Hotelrestaurant hängt Arafats Porträts, und auf der Straße kann man Kunafah schlemmen, eine Spezialität aus Nablus, aus Quark-artigem Käse und Kadayif – feinen Teigfäden mit Mandel- oder Wallnussfüllung und Zuckersirup.

Mehrstöckige Gebäude, darunter viele Rohbauten, walzen sich über die Hügel rund um Nablus‘ Altstadt, und am Al-Nasr Platz hebt sich das Wahrzeichen empor, die An-Nasr Moschee mit türkisfarbener Kuppel. Ein junger Mann und sein Sohn verkaufen am Straßenrand Saft und rufen mir „Willkommen in Palästina!“ hinterher, während ich die kleinen Steinhäuser betrachte und spielende Kinder.

Bald erreiche ich die Braik Mill, beziehungsweise Al-Khammash Seifenfabrik, wo außer Gewürzen auch Nabulsi-Seife erhältlich ist: Seife, die aus jungfräulichem Olivenöl, Wasser und einer alkalischen Natriummischung entsteht. Der Verkäufer spendiert mir einen Kaffee, und ich greife dankbar zu – noch nicht ahnend, dass bald mehr Koffein folgen soll.

Picknick mit Palästinensern

Dass der Kopf von Johannes dem Täufer in Sebastia, einem Dorf mit 4.000 Einwohnern wenige Kilometer von Nablus entfernt, begraben liegt, erfahre ich erst vor Ort. An der Stelle entstand eine Kathedrale, später eine Moschee, in deren Keller man ins feuchte Gefängnis des Johannes hinabsteigen kann. Außerdem stehen in Sebastia die Ruinen der antiken Königsstadt Samaria, Hauptstadt des Königreichs Israel ab 876 vor Christus und ab byzantinischer Zeit sich selbst überlassen. Die ruhige Stätte, umgeben von viel Grün, ist ein Picknick-Hotspot der Einheimischen. Auch hier müssen erst einmal etliche Selfies mit den seltenen Touristen geschossen werden, und bevor ich mich versehe, sitze ich mit auf der Picknickdecke einer Großfamilie, zwischen den Frauen auf der einen und den Männern auf der anderen Seite. Fast jeder spricht etwas Englisch. Bald habe ich eine Hand voller Nüsse und bekomme einen Pappbecher mit Kaffee gereicht. Ghessan, den ich auf Ende 40 schätze und der wohl Familienoberhaupt ist, erklärt mir, wer wessen Schwester oder Bruder oder Cousin ist.

„Wir wohnen in Nablus, meine Cousinen hier in Hebron“, erzählt er, und bald setzt sich auch sein sechzehnjähriger Sohn dazu. „Ich möchte unbedingt in Deutschland Medizin studieren, meinst du, das geht?“. Elektriker wie sein Vater wolle er auf keinen Fall werden. Es folgen Einladungen nach Nablus und Hebron. „Wie gefällt dir Palästina?“, wollen alle wissen. Die jüngeren Frauen kichern, die älteren reichen mir Tüten weiterer Köstlichkeiten. Mir, dem unvorhergesehenen Ehrengast. Wie es mir gefällt? Nicht schlecht.

Dinner for many

Wenige Stunden später sitze ich in dem Dorf Duma am langen Esstisch von Ibtehalt und ihrem Mann Abedalrahem, die vor fünf Jahren einen Homestay gestartet haben. Die achtjährige Tochter Fatimah, eins von fünf Kindern, hilft, den Tisch zu decken – ein Huhngericht mit Reis, Salat und selbstgebackenem Brot. „Ich habe bis zur Geburt meiner Kinder als Englischlehrerin gearbeitet“, erzählt Ibtehalt. „Mein Mann arbeitet auf dem Bau auf der israelischen Seite und muss jeden Morgen um drei Uhr aufstehen, weil er anderthalb Stunden braucht, den Checkpoint zu passieren. Dafür bezahlt er jeden Tag 100 Shekels.“ Etwa 25 Euro.

Zum ersten Mal erfahre ich etwas über den palästinensischen Alltag. Das Land ist in A,- B- und C-Zonen aufgeteilt, wobei zu den 18 Prozent A-Zonen große palästinensische Städte gehören, die theoretisch autonom sind, wo die israelische Militärverwaltung aber wenn nötig eingreifen darf. Zu den 20 Prozent der B-Zone zählen Kleinstädte, die in zivilen Bereichen autonom sind, in Sicherheits-Themen aber mit Israel zusammenarbeiten. Die große C-Zone ist ganz unter israelischer Kontrolle. Zwischen den Zonen bestehen Checkpoints und Straßensperren, die bei vielen Menschen, wie Abedalrahem, auf dem Weg zur Arbeit liegen. Die kleine Fatimah kümmert das alles noch nicht – sie ist bloß enttäuscht, dass kein Schweizer Besuch gekommen ist: „Die bringen immer die beste Schokolade mit!“

Auf Jesus‘ Spuren zum Ersten

Kein Besuch des Westjordanlands ist vollständig, ohne auch mal nachzuschauen, wo Jesus angeblich starb oder wo er geboren wurde: in Jerusalem beziehungsweise Bethlehem. Sobald abends die Rollläden an den Geschäften runterfallen, wird es still in der Altstadt Jerusalems – an jenem Ort, der aus palästinensischer Sicht die Hauptstadt eines künftigen Palästinenserstaates sein soll. Dies ist der beste Moment, um ungestört durch das christliche, jüdische, muslimische und armenische Viertel zu spazieren, in die zahlreiche Tore, wie das Damaskustor, führen.

Irgendwann stoße ich auf Metalldetektoren, durch die ich gehen muss, um eins der Highlights der Stadt zu erreichen: die Klagemauer, 48 Meter lang, 19 hoch, die für viele Juden den ewigen Bund Gottes mit seinem Volk darstellt. Rechts beten die Frauen, links die Männer mit schwarzen Anzügen oder langen Mänteln und Kippa oder Hut auf dem Kopf. Viele beten in Bücher versunken, manche stecken Zettel mit Gebeten, Wünschen oder Danksagungen in die Ritzen der Mauer.

Am frühen Morgen erstrahlt die Kuppel des Felsendoms auf dem Tempelberg in der Sonne. In den Gassen duftet es nach frischem Brot, das junge Männer auf Schubkarren zu ihren Verkaufsposten schieben. Die Muezzins rufen zum Gebet, irgendwo läuten Glocken, ein alter Mann singt lauthals „Halleluja“.

Die Via Dolorosa wird zum Anziehungspunkt vieler Gläubiger, die auf 14 Stationen Jesus auf seinem Leidensweg von der Verurteilung bis zum Tod am Kreuz folgen. Jeden Freitagnachmittag starten Franziskaner die Freitagsprozession, wobei alle gemeinsam den Leidensweg abschreiten, bis zur Grabeskirche, die über Jesus‘ Grab errichtet wurde. Wer das leere Grab sehen möchte, braucht viel Geduld – die Schlange reicht oft bis auf die Straße, aber ein Blick auf die Fresken zur Sterbe- und Auferstehungsszene sowie auf den Schrein überm Grab lässt sich etwas leichter erhaschen.

Auf Jesus‘ Spuren zum Zweiten

Zurück zum Beginn heißt es, wenn man sich auf den Weg nach Bethlehem macht – dorthin, wo Jesus angeblich geboren wurde. In der Altstadt wollen alle Besucher das eine sehen – die Geburtskirche, wo es nun kein Grab, sondern den mit einem Stern markierten Flecken zu sehen gibt, wo das Christuskind gelegen haben soll. Die Schlange zum Geburtsort ist so lang wie zum Grab in Jerusalem. Wer stundenlang wartet, wird mit mehreren Sekunden auf dem heiligen Boden belohnt.

Wenige Kilometer von der Altstadt entfernt thront ein Stück palästinensisch-israelischer Problematik zum Anfassen: ein Teil der 759 Kilometer langen, bis zu acht Meter hohen Mauer, israelische Sperranlage, 2010 fertiggestellt, welche die Grenze zwischen Israel und dem Westjordanland markiert. Viele Künstler und Normalbürger haben die Mauer in ein Kunstwerk verwandelt, ihrem Schmerz oder ihrer Hoffnung Bilder und Worte gegeben: Ein Mädchen hüpft mit Stacheldraht Seil. Trump umarmt einen Wachturm, als wollte er ihn küssen. Einige der Bilder stammen von Straßenkünstler Banksy, der 2017 das Walled off Hotel mit Mauerblick eröffnete.

Kurz vorm Banksy-Hotel gibt es einen Banksy-Laden, ‚Shop behind the wall‘, des 28-jährigen Palästinensers Hammoud Abdalla, kurz Moodi, der Mauerkunst auf T-Shirts, Postkarten und Postern verkauft. Auc er hat auf die Mauer geschrieben: Make Hummus, not walls. Er erklärt mir, was das überdimensionale Porträt eines jungen Mädchens bedeutet: „Das ist die 16-jährige Ahed Tamimi, die 2017 festgenommen wurde, weil sie einem israelischen Soldaten ins Gesicht geschlagen hatte.“ Aus Zeichen für Solidarität und Respekt kam ein Kumpel Moodis, der italienische Straßenkünstler Jorit, nach Bethlehem, und malte das Porträt auf die Wand.

Ich laufe bergauf bis zum Aida Flüchtlingslager, das 1950 entstand und wo über 1.100 Geflüchtete aus der Region um Jerusalem und Hebron in Zelten lebten. Heute besteht es aus schlichten Häusern mit Mauerblick und Gassen voller Müll, wo Kinder zur Schule gehen und Jugendliche vor Läden abhängen. Ein kleiner Junge läuft neben mir her, will wissen, wie ich heiße. Er sei Ahmad. Alle lächeln mir zu, manche winken. „Welcome to Palestine“, höre ich immer wieder. Sollte mich jetzt noch einmal jemand fragen, wie es mir im Westjordanland gefällt, hätte ich eine klare Antwort: verdammt gut! Trotz allem.

Diese Reise wurde organisiert von ATTA Adventure Trade Travel Association, eine der führenden Stimmen weltweit und Partner für das Abenteuerreise-Gewerbe. Die Tour durch das Westjordanland fand mit dem lokalen Anbieter Siraj Center statt , der auch Wandertouren im Westjordanland organisiert. Mehr Infos dazu hier.

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