Öko-Tourismus in Nicaragua: Urlaub bei Bauern

von Bernadette Olderdissen

Öko-Tourismus in Nicaragua: Urlaub bei Bauern

Das Miraflor Naturreservat in Nicaraguas Zentrum liegt nicht auf der typischen Backpackerroute. Doch bekommt man dort etwas, das einem das Surfen am Pazifik oder Vulkan-Rodeln bei León nicht gibt: Kontakt mit Einheimischen und waschechten Bauern, die genau wissen, wie’s geht – fernab der Städte und Touristenorte zu überleben. Vom und mit dem Land, das sie tagtäglich bewirtschaften. Und wo man als Besucher auch mal reinschnuppern darf.

Reisebericht

Um das Miraflor Reservat im Landesinneren Nicaraguas zu erreichen, geht es im Chicken-Bus von León nach Estelí. Hühner gibt es zwar nicht in dem alten US-amerikanischen Schulbus, aber umso mehr Menschen. Ich freue mich zu früh über einen reservierten Fensterplatz auf einem komfortablen Zweisitzer – bis sich jeweils drei Personen auf die Polster, die in Wirklichkeit Dreisitzer sind, drängen. Auch Stehplätze werden doppelt und dreifach besetzt, und bald wechseln sich breite Hinterteile, große Oberweiten und tropfende Tüten mit Drinks vor meinem Gesicht ab. Als selbst eine Mücke kaum noch Platz im Bus finden würde, schieben sich zwei Straßenverkäuferinnen, die es mit der Figur nicht so genau nehmen, mit großen Snack-Schüsseln auf dem Kopf ins Innere. Mitten im Gang geht es weder vor noch zurück. Es herrschen gefühlte 40 Grad, doch der staubige Fahrtwind bringt ein wenig Erleichterung. Und Enrique Iglesis, der aus dem Lautsprecher in voller Lautstärke ‚Escapar‘ schmettert. Eventuell ist er nicht der Einzige mit Fluchtgedanken.

Raus in die Wildnis

Der ersten Etappe nach Estelí folgt eine weitere Chicken-Bus-Fahrt raus in die Wildnis. El Coyolito steht am Zielschild. Die UCA, eine landwirtschaftliche Kooperative aus Estelí, hat für mich ein paar Tage im Miraflor Naturreservat organisiert, gut 30 Kilometer entfernt und mehr als 250 Quadratkilometer groß. Dort soll es drei Klimaebenen auf recht kleiner Fläche geben, unterteilt in eine untere, mittlere und hohe Ebene, voller Nebelwald und einer großen Biodiversität. Neben der Natur fasziniert mich der Gedanke des Ökotourismusprojekts: Die UCA engagiert sich seit 20 Jahren für die Bauern – bei denen ich wohnen werde.

Ich bin die einzige Ausländerin im Bus. Meine Nachbarin stillt ihr Baby, die Männer tragen Cowboyhüte und Westerngürtel. In Los Cocos in der unteren Ebene steige ich aus, denn dort wartet Dora am Straßenrand auf mich. Die Bäuerin umarmt mich, als würden wir uns nach Jahren wiedersehen. Ich ziehe in eine kleine Holzhütte mit Miniterrasse vorm Bauernhaus, wo die etwa Fünfzigjährige mit ihren beiden erwachsenen Kindern lebt. „Mein Mann ist weg, in den USA“, berichtet sie, während ein großer Teller Hähnchenkeulen, Reis, frittierte Bananen und Salat vor mir auf dem Tisch landet. „Meine Kinder und ich bewirtschaften das Land nun allein, und wir freuen uns, Besucher aus aller Welt zu empfangen. Das gibt uns ganz neue Perspektiven, und meine Tochter spricht schon gut Englisch.“ Überall laufen Katzen herum, die ich sofort ins Herz schließe – vor allen den frechen Kater Lucas, der versucht, mir eine Hähnchenkeule zu stehlen.

In der Natur

Am Nachmittag zeigt mir der 34-jährige Ali, ein Tourguide, einen kleinen Teil der Zona baja. Er und seine Frau hätten das UCA-Projekt mitgestaltet. „Wir haben auch Unterstützung aus Deutschland bekommen, sogar von Milka! Sie verkaufen einen Teil unseres Kaffees in Deutschland weiter.“ Ein Ziel der Kooperative sei es, das Bewusstsein für Umweltschutz in der Bevölkerung zu stärken. Es gäbe 45 Gemeinden mit 450 oder 500 Einwohnern und einige kleinere. „Mittlerweile machen etwa 70% aller Familien in Miraflor bei unserer Kooperative mit. Zuerst gab es Probleme, weil einige Familien neidisch auf die waren, die Touristen unterbrachten und mehr Gewinn einstrichen.“ Dann hätten viele es selbst probiert, gemerkt, dass es auch viel Arbeit bedeute und wieder aufgegeben.

Wir wandern durch die Landschaft, teilweise über privates Farmland. Dann klopft Ali bei den Bauern an, und für ein paar Münzen bekommen wir Passiererlaubnis. „Möglichst viele sollen von unserem Projekt profitieren.“ Es geht zu drei kleinen Wasserfällen, dann zu einem 600 Jahre alten Baum, dessen Stamm etwa zehn Menschen umarmen könnten. Ali berichtet von den Grund- und weiterführenden Schulen in den Gemeinden, da Bildung zunehmend an Bedeutung gewinne. „Mein Vater konnte nicht schreiben, wollte aber unbedingt, dass seine neun Kinder zur Schule gehen.“ Bildung sei jungen Menschen heute wichtig. Man bekomme weniger Kinder und tue stattdessen mehr für sich.

Nach dem gemeinsamen Abendessen – mal wieder Gallo Pinto, Reis mit roten Bohnen, dem Nationalgericht – sitzen Dora und ich zusammen und plaudern. Sie wolle gern über Internet Werbung für ihre Unterkunft machen, berichtet sie von ihren Plänen, doch noch sei es schwer, das nötige Wissen zu erlangen. Ich gebe ihr Tipps und wir lachen viel, während die Grillen für uns singen.

Ritt in die Wildnis

Meine Zeit mit Dora geht zu schnell zu Ende. Am Morgen ertönt aus der Ferne ein Tuten – das Signal des Busses, wenn er einem Dorf näherkommt, damit sich Fahrgäste bereit machen. Die Landschaft vor dem Fenster verändert sich schnell, erinnert bald an eine Märchenwelt aus Nebel, Regen und vielen ‚Barba de viejo‘-Bäumen – Bäume des Altenmannbarts. Die Bezeichnung passt, denn die herunterhängenden Stränge ähneln wirklich alten, grauen Bärten.

Ali holt mich am Bus ab, eine weitere Reservatserkundung steht an – heute zu Pferd. Ali, der mit meinem Reiserucksack souverän auf dem Pferd sitzt, hat viel zu lachen, als wir bei Sturzregen bis zu einem riesigen Ficus reiten, der innen ausgehöhlt ist. „Der Baum ist ein Parasit – er lebt nur auf Kosten anderer.“ Danach geht es 14 Kilometer von der Zona alta in die Zona intermedia, die mittlere Ebene. Bald liegt der Nebelwald mit seinen Bärten hinter uns, die Bäume werden kleiner. Einen Stopp gibt es erst am Aussichtspunkt El Apante, wo ich mit schmerzendem Po absteige, um die weite, grüne Landschaft zu bewundern. „Hier werden Kartoffeln, Tomaten, Pfeffer und Kaffee angebaut“, klärt mich Ali auf. „In dieser Zone gibt es fast nur Solarenergie und kein fließendes Wasser.“

Meine neue Familie

Zu Mittag kommen wir bei meiner neuen Gastfamilie an – Bäuerin Maribel in Casa La Perla. Sie wirkt wie jemand, der weiß, wie man kämpft. Ich lerne die 20-jährige Tochter Sandra, den Sohn und dessen Frau kennen. Im Gegensatz zu Doras Haus mit Fliesenboden, besteht der von Maribels Steinhaus aus einfachem Lehm. In der Küche kocht man mit Holz, am Herd liegt ein großer Hund. Meine Augen müssen sich erst an die Dunkelheit im Inneren gewöhnen, doch dann erkenne ich im Wohnzimmer ein Regal voller Pokale und daneben ein Motorrad. Fließendes Wasser gibt es nicht, man schöpft neben der Außentoilette in einem Holzkästchen selbst Wasser aus einem Fass, um zu spülen.

„Ein großes Problem für die Menschen hier ist die Müllentsorgung“, erzählt mir Ali beim Mittagessen, während die Familienmitglieder ihrem Alltag nachgehen. „Meistens verbrennen sie Plastik irgendwo am Wegesrand und sind sich nicht bewusst, wie umweltschädlich das ist. Wir versuchen, sie dafür zu sensibilisieren.“ Als sich Ali verabschiedet hat, verbringe ich Zeit mit Maribel. Meine Hilfe bei was auch immer lehnt sie stolz ab. „Vor 20 Jahren habe ich zusammen mit fünf anderen Frauen die Kooperative gegründet, um Finanzierung für Frauen zu erhalten.“ Meist hätten nur Männer Unterstützung bekommen, doch ihrer habe sie mit sechs Kindern sitzenlassen. „Das ist normal in Nicaragua. Die Männer sind oft sehr besitzergreifend.“ Aber sie und ihre Familie hätten alles selbst in die Hand genommen – und auf den Tourismus gesetzt. „Wir bauen gerade aus, bald gibt es Platz für 25 Personen“, berichtet Maribel. Die Solarenergie sei bei ihr kürzlich aufgrund einer Spende von 1000 Dollar aus dem Ausland installiert worden.

Mit Sandra lerne ich später den Hof kennen. „Wir bauen Kaffee, Mais, Kartoffeln, Kohl und Bananen an.“ Sie führt mich durch schlammige Felder zum Kräutergarten ihrer Mutter. „Ich fahre jedes Wochenende nach Managua zum Englischkurs“, erzählt sie. Heiraten wolle sie nicht, die Männer in Nicaragua seien unausstehlich. Stattdessen zieht sie öfters mit in der Hauptstadt gekauften Kleidung von Haus zu Haus, um sie auf dem Land für mehr Geld zu verkaufen. Zum Abendessen ist sie wieder da, einige Scheine in der Hand. Dieses Mal sitzen wir Frauen zusammen und Maribel erzählt von ihrem zweiten Sohn, der in den USA lebe und 700 Dollar die Woche verdiene. „Wir brauchen Geld. Eine Kuh kostet 1.500 Dollar.“ Trotzdem sei es besser, auf dem Land zu leben, als in einer Fabrik in der Stadt zu arbeiten. „Manchmal mache ich mir Sorgen, dass es Leuten wie dir, die etwas anderes gewöhnt sind, hier bei uns nicht gut genug ist“, gesteht Maribel. Ich muss daran denken, dass ich kurz die Nase über das fliegenreiche Klo gerümpft habe und wie schwer es mir gefallen ist, mit einem kalten Eimer Wasser über dem Kopf zu duschen – und schäme mich. Ob ich so weit gekommen wäre wie Maribel, wenn ich wie sie aufgewachsen wäre?

Nur ein Traum

Wieder tutet der Bus früh. Ich erhasche einen freien Platz neben einem älteren Herrn mit Sonnenbrille und Hut. Sobald der Bus in Bewegung ist, steht ein Mann auf, eine Bibel vor sich. „Jeder von uns sollte sich bewusst sein, dass das Leben nur ein Traum ist. Es zieht schnell vorbei, und wir müssen entscheiden, ob wir danach ins Paradies oder in die Hölle wollen.“ Es ist still, während er predigt. Als er sich schließlich setzt, tippt mir mein Nachbar auf den Arm. „Glaubt man in deinem Land auch an Gott?“ Schon bin ich mit Juan Santiago im Gespräch, der einen Hof im Miraflor Reservat hat – und sieben Kinder. Auf meine Frage, wie viele Enkelkinder er habe, sieht er mich entsetzt an. „Das weiß ich gar nicht!“ Er wird still. Was der Prediger ausnutzt, um meine Bibelfestigkeit zu testen.

„Es ist wichtig, dass die Menschen alles über Jesus wissen, auf sein Kommen vorbereitet sind.“ Der Bus schaukelt dabei durch einen Fluss, der sich vom heftigen Regen des Vortages auf der Straße gebildet hat. Erst, als wir in Estelí ankommen, erwacht der Farmer aus seiner Trance. „Ich habe 17 Enkelkinder!“ Er greift nach meiner Hand, und der Prediger gibt mir Gottes Segen mit auf den Weg. Und ich, ich bin dankerfüllt. Nicht hauptsächlich für den frischen Segen. Eher, weil ich wieder mal kapiert habe, wie viele Privilegien ich genießen darf. Unter anderem das Privileg, zu den einfachsten Menschen Nicaraguas zu fahren und von ihnen zu lernen.

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