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Marielle
Ich bin Marielle, 25 Jahre jung, seit rund sechs J …
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Mit dem Kulturzug von Berlin nach Breslau
Manchmal findet man etwas, wonach man gar nicht gesucht hat, und es ist besser als man sich je hätte träumen lassen: so oder so ähnlich fängt meine Reise mit dem Kulturzug von Berlin nach Wroclaw (Breslau) an, eine Initiative, auf die ich ganz zufällig bei Facebook gestoßen bin, und die mich endlich dazu gebracht hat, mein Nachbarland Polen kulturell besser kennenzulernen.
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Allgemeine Reiseinfos
Für 19 Euro kann man samstags und sonntags um 08.38 vom Ostkreuz in Berlin nach Breslau fahren. Im Zug selbst gibt es eine mobile Bibliothek, in der man Bildbände über Wroclaw und andere schöne deutsch-polnische Bücher und Romane zum Durchschauen ausleihen kann. Im Kulturzug wird die vierstündige Reise zum Erlebnis, bei dem man durch Lesungen, Musik oder Quiz schon während der Fahrt viel Interessantes über sein Reiseziel lernen kann. Der Kulturzug ist die erste direkte Zugverbindung zwischen der polnischen Stadt und der deutschen Metropole seit Ende 2014, als die letzten Züge von Berlin nach Breslau wegen mangelnden Interesses eingestellt wurden. Von diesem Mangel ist im Kulturzug nichts zu spüren, groß und klein, alt und jung, Single, Pärchen, Ehepaar oder Familie – alle sind sie auf dem Weg nach Breslau. Hier kann man direkt buchen.
Gegen Mittag fährt der Zug dann im Hauptbahnhof von Wroclaw ein. Wer möchte, kann noch am selben Abend wieder um 18.50 Uhr zurück oder aber, er bleibt wie wir eine Nacht, hat mehr Zeit und weniger Stress Wroclaws wunderschöne Seiten zu erkunden – es lohnt sich – und fährt am Sonntag Nachmittag um 17.15 Uhr mit dem Zug nach Berlin zurück. Im nächsten Jahr startet der Kulturzug sogar schon Freitag nachmittags durch. Wenn das nicht nach einem verlängerten Wochenende in Polen schreit.. Das Kulturzug-Ticket gelten auch in den Bussen und Straßenbahnen der MPK Wroclaw, das heißt im Breslauer Straßenverkehr als Tageskarte.
Von Wroclaw selbst kann man natürlich auch gut und günstig weiter nach Warschau, Krakau (für 10 Euro in drei Stunden) oder eine andere polnische Stadt reisen, aber wir wollten die quirlig-romantische Stadt kennenlernen, die uns der Kulturzug ans Herz gelegt hat und nicht ohne Grund im Jahr 2016 den Titel Kulturhauptstadt Europas tragen durfte.
Obwohl ich bereits sieben Jahre in Berlin lebe, habe ich es noch nie nach Polen geschafft. „Die Leute gehen nicht nach Osten“, meint Jordan, unser Couchsurfing-Gastgeber. „Ich bin in Wroclaw geboren, habe mein ganzes Leben hier verbracht und war noch nie weiter östlich als Krakau. Letzte Woche habe ich einen Flug in die Ukraine gebucht – zum ersten Mal geht es in Richtung Osten.“ Ob er Recht hat? Etwas bestürzt denke ich über meine eigene, allgegenwärtige Sehnsucht nach sonnigen, südlichen Gefilden nach, wegen der meine östlich gelegenen Nachbarn ein ums andere Mal das Nachsehen hatten. Zu Unrecht, denke ich, wenn ich mir die Schönheit dieser polnischen Stadt angucke, die außerdem günstig, freundlich und kulinarisch wie kulturell spannend und als reiche das nicht aus auch noch die wärmste Stadt Polens ist, und gelobe Besserung. Auf geht’s Wroclaw, zeig mir, was du kannst.
Schon die Einfahrt in den Hauptbahnhof Wroclaw Glówny ist beeindruckend: das 1855 errichtete Gebäude erinnert an ein kleines Schloss samt höflichem Eingangspavillon. Auch in Richtung Zentrum geht es (farben-)prächtig weiter: in Wroclaw fallen Zentrum und Altstadt im Renyk, dem großen Ring und zweitgrößtem Marktplatz in ganz Polen, mit seinen malerischen Häuserfronten, alten Bankgebäuden und nostalgischen Apotheken, die wahlweise aus einem Bilderbuch oder einer Wes Anderson Filmkulisse stammen könnten, zusammen.
Vom Kirchenturm der Elisabethkirche genießt man einen herrlichen Ausblick über die Stadt und auch das schöne gotische Rathaus mit seiner Sonnenuhr ist einen zweiten Blick wert: der Zeiger auf der Sonnenkugel zeigt die Stunden, die Mondkugel die Mondphasen an und in den Ecken befinden sich die alten ägyptischen Zeichen für die vier Jahreszeiten.
Wir machen Kaffee-und Kuchenpause im Café A. Blikle (Rynek 1/2) mit direkter Sicht aus das bunte Treiben auf dem Platz, wählten ein Stück Haselnuss-Karamell-Kuchen aus einer köstlich aussehenden Auswahl von rund zwanzig selbstgemachten Torten und wanderten anschließend weiter in Richtung Wasser, wo wir zwischen Sand- und Dominsel herrlich entspannend am Wasser entlang flanieren konnten. In Wroclaw sind es Brücken, die die Stadt vereinen: die Dombrücke verbindet die Sand-mit der Dominsel (Ostrów Tumski), die Zwietzyniecki Brücke wurde erbaut aus rotem Sandstein und die Grundwakdzki Brücke ist die berühmteste Brücke der Stadt.
Auch die Präsenz der Kirche hat in Polen starkes Gewicht, was sich ebenfalls architektonisch widerspiegelt: Den ältesten Teil der Stadt bildet die Dominsel mit dem Johannesdom und der Ägidienkirche ist die älteste erhalten gebliebene Kirche Wroclaws, die barocke Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit verfügt über eine wundervolle Inneneinrichtung und die Kirche der Vorhersehung Gottes bildet ganz in weiß nicht nur die perfekte Location für eine Hochzeit, sondern auch eine der vier direkt nebeneinanderliegenden Kirchen des sogenannten „Viertels der Gegenseitigen Achtung“.
Neben den Brücken und Kirchen sticht in Wroclaw ein weiterer Bestandteil der Bevölkerung sofort ins Auge: die unzähligen kleinen Zwerge, die Straßenecken überall in der Stadt bewohnen. Sie sind das Markenzeichen der Widerstandsbewegung „Orange Alternative“ aus der kommunistischen Zeit Polens und eine schöne Erinnerung daran, dass es sich immer lohnt, Widerstand zu leisten, die Stimme zu erheben und gegen Ungerechtigkeiten laut zu werden, egal wie vermeintlich klein unser Einfluss auch sein mag.
Nachdem wir Wroclaw den ganzen Tag zu Fuß erkundet hatten, waren wir bärenhungrig und wollten unbedingt etwas richtig Polnisches essen. Gesagt, getan, die polnische Platte, „Deska Polska“, im Restaurant Konspira (Plac Solny 11), direkt am Salzmarkt, an dem Teil des Marktplatzes, an dem früher Salz verkauft wurde, erfüllte alle unsere kulinarischen Träume umrahmt von polnischer Biergartenkultur, die ihren Gästen dank Heiz- und Wärmestrahlernstrahlern selbst im Spätherbst und Winter erlaubt, beim Verspeisen köstlicher, polnischer Hausmannskost gemütlich draußen zu sitzen. Wir bestellten die Platte für zwei und drauf war alles, was das polnische – und unser – Herz begehrt: Pierogi, Bigos, das polnische Nationalgericht bestehend aus einem Krauteintopf aus gedünstetem Sauerkraut und Fleisch in einem Brotlaib, den man auch noch mitessen konnte, Golabki, wahnsinnig leckere, polnische Kohlrouladen, saure Gurken, Smietana, eine Art polnischer Sour Cream und verschiedene andere Saucen und Dips und zu guter Letzt: polnische Wurst. Es war polnisch, es war reichlich, es war deftig, es war geil! Die polnische Küche und ihre Portionsgrößen sind ganz nach meinem Geschmack und seit diesem Abendessen bin ich ein ausgesprochener Fan polnischer Hausmannskost.
Gestärkt von so viel gutem Essen, machten wir einen mitternächtlichen Verdauungsspaziergang und Wroclaw ist schön bei Tag und spektakulär bei Nacht. Wroclaw ist jung, eine Stundenstadt und mag man es tagsüber noch nicht so stark gespürt haben, so merkt man es spätestens abends: die Stadt ist lebendig, hier ist was los. Kein Wunder also, dass das Gebäude, das mich in seiner nächtlichen Beleuchtung so sehr fasziniert hat, den Studenten gewidmet war: Wroclaws Universität erstrahlt nachts in zweifarbiger Beleuchtung zu majestätischem Glanz, der sich im Wasser spiegelt und den man von der gegenüberliegenden Dominsel am besten bestaunen kann. Eine Oper, ein Theater, aber eine Universität von so ausgesprochener, außergewöhnlicher Schönheit sieht man nicht alle Tage und versetzt einen erst ins Staunen und dann ins Grübeln, wenn man an das eigene belanglose, graue Universitätsgebäude zurückdenkt: bei einer Universität wie der in Wroclaw, da bin ich sicher, würden wir alle gerne und mit Stolz Tag und Nacht Student sein und garantiert öfter und motivierter zu den Vorlesungen gehen..
Die Dominsel ist außerdem wie gemacht für Studenten, denn sie ist der einzige Ort in der Stadt, an dem man offiziell in der Öffentlichkeit trinken darf. Hier am Wasser sitzen jede Menge junge Leute und läuten den Feierabend ein, lesen ein Buch, quatschen, trinken, feiern, bewundern ihre Universität, machen Musik, singen zusammen oder tanzen, schauen aufs Wasser und träumen bei chilliger Musikuntermalung und Breslau hat auf einmal so viel von Berliner Sommer- und Spätsommernächten, in denen alles so ist, wie es sein soll, weil wir an genau dem Platz sind, an dem wir sein wollen. Nächte, die Erinnerungen werden, Nächte, die nie zu Ende gehen –zumindest nicht, bevor die Sonne aufgeht.
Ausgeschlafen ging es am nächsten Tag zu Fuß zum Scheitniger Park, in dem ein wunderschöner japanischer Garten liegt. Auf dem Weg dorthin sahen wir eine andere Ecke von Wroclaw, die etwas rauer, aber nicht weniger charmant war. Ich habe eine Schwäche für Häuser und die in Wroclaw haben es mir, ähnlich wie die Häuser in Prag, ganz besonders angetan.
Angekommen in der Oase des japanischen Gartens vergisst man dann völlig, in Polen zu sein.
An den Scheitniger Park schließt sich umgeben von einem Wasserbecken und von Efeu eingerahmten Säulengang die Jahrhunderthalle an, ein Werk des herausragenden Architekten Max Berg, das wie ein Zuckerhaut über Wroclaw herausragt.
Auf dem Rückweg haben wir noch einen kurzen Pitstop bei Chleboteka (Ruska 64/65 ) eingelegt, um uns mit leckerem, selbstgemachten Kuchen (besonders lecker ist ihre polnische Version des Zupfkuchens mit Marmelade) für die Zugfahrt einzudecken. Danach ging es, mit vollem Herz und bald auch vollem Bauch und viel Kultur im Gepäck wieder zurück nach Berlin. Doch eins ist klar: Das ist kein Abschied, das ist bis bald Wroclaw, denn wir werden uns wiedersehen – mit der wunderbaren Erfindung des Kulturzugs spätestens im nächsten Jahr.