Kulturschock Heimat – Fremd im eigenen Land?

Kulturschock Heimat – Fremd im eigenen Land?

Viele haben ihn auf Fernreisen schon einmal erlebt: den Kulturschock. Andere Länder, andere Sitten, Unterschiede im Umgang miteinander, daraus resultierende Missverständnissse, schlicht eine andere Art, den Alltag zu leben. Aber wie ist das eigentlich „andersherum“? Wenn man von einem langen Auslandsaufenthalt in seine Heimat zurückkehrt – taucht man sofort wieder ein, in das, was man Heimat nennt und als Heimat kennt, oder fühlt man sich fremd im eigenen Land? Ein Erfahrungsbericht.

Reisebericht

Mein letztes Stündchen in Mexiko hat geschlagen. 340 Tage habe ich hier verbracht, fast ein Jahr. Ich stehe am Flughafen Benito Juárez in Mexiko-City, in der linken Hand den kleinen Trolley, in der rechten den großen Koffer und weiß nicht so recht, wohin. Sofort – und wie es mir in Mexiko eigentlich ständig geschieht – ist jemand zur Stelle. Ein netter älterer Señor bietet sich an, mir einen Koffer auf dem Weg zum Check-in-Schalter abzunehmen. Ich habe mir in diesem Jahr abgewöhnt, argwöhnisch zu hinterfragen, ob dieser Señor Geld oder sonst eine Gefälligkeit von mir will und in der Tat, es ist wie immer – er will einfach nur helfen, denn er kennt sich aus am Flughafen. Früher habe er hier gearbeitet. Es ergibt sich ein lustiges Gespräch. Ich verabschiede mich mit einer Umarmung vom netten Señor und er ward nie mehr gesehen. Im Flugzeug lasse ich die 340 Tage Revue passieren: turbulente Tage voller Abenteuer, Herausforderungen, Erfolge, Misserfolge, Hochgefühle und auch Enttäuschungen. Ich bin um einige neue Erfahrungen, Bekanntschaften und Erkenntnisse reicher. Nicht alles war einfach, aber dieses México Mágico und seine Menschen hatten doch immer eine neue Lösung, eine neue Überraschung für mich parat. Ich komme zu dem Schluss, dass ich sehr dankbar bin.

Welcome to Germany

Szenenwechsel: Eine Toilette am Airport Frankfurt. Mir wurde gerade gesagt, dass ich die Weiterfahrt im Zug ohne meinen Koffer antreten müsse. Mehr kann ich aus dem Flughafenangestellten nicht herausquetschen – er hat keine Zeit. Naja, erst mal aufs Klo. Da erschrecken mich laute Schlag- und Klappgeräusche. Was ist das? Die Schläge hallen wider im sonstigen Meer der Stille und irgendwie als Peitschenschläge in meinem Kopf. Ein Mann räumt Papiertücher aus und ein, befüllt den Seifenspender neu, leert den Müll, und das in einer atemberaubenden Geschwindigkeit und aus unerklärlichen Gründen voller Aggression. Es sind Schubladen, die er mit all seiner Manneskraft zuschlägt, welche die Geräusche verursachen, die mich auf der Toilette ziemlich einschüchtern. Ich trau mich raus aus dem Klo, muss ja den Zug kriegen, da brüllt der Mann laut „Scheiße!“. Ich schau ihn entsetzt an, er schaut erschrocken zurück und verlässt sturzartig den Raum. Ich bin total verdattert. Der Mexikaner würde von „malas vibras“ sprechen¸ „bad vibes“. Ich denke: „Welcome to Germany!“.

Mein Koffer kommt in letzter Sekunde doch noch und ich rolle die beiden Gepäckstücke zum Gleis. Da die Bahn wie gewohnt Verspätung hat – some things never change – habe ich Zeit, die Szenerie auf mich wirken zu lassen: Es ist still, sehr still. Das liegt vielleicht daran, dass hier wenig Menschen auf großem Raume in einer riesigen Halle verteilt sind, diese Menschen kaum reden, nicht lachen, keine Kinder herumtollen und auch keine Hunde herumstreunen. Ernste Gesichter und graue Haare dominieren das Bild. Ich überlege kurz, ob Volkstrauertag ist oder vielleicht eine schreckliche Tragödie stattgefunden hat, von der ich noch nicht weiß. Ach, und jetzt fällt mir auf, was wirklich fehlt: Musik! In Mexiko wird man ja dauerbeschallt – ob im Supermarkt, an der Busstation, im Bus, auf dem Zócalo, von einem auf der Dorfkirche installierten Megaphon, das das immer selbe Lied wiedergibt, gesungen von zarten Kinderstimmen auf Band. Mexikaner können ohne Musik – und bitteschön so laut wie möglich – nicht leben. Das kann manchmal bis an die Schmerzgrenze gehen, aber jetzt, ja jetzt befremdet mich diese Stille hier in Frankfurt am Main.

Im Zug Gedränge, Schieben, Grummeln, schlechte Stimmung. Ich nehme auf dem Boden Platz, dank Überfüllung. Ich hatte ja als gute Deutsche noch eine Platzreservierung vorgenommen, aber no chance, an meinen Platz zu kommen. Ein Pärchen beginnt, laut zu streiten. Wenigstens ist es nicht mehr so still. Senk ju for trävelling wis Deutsche Bahn!

Daheim in meiner Wohnung fühle ich mich fremd. Es hat sich nicht viel verändert – vielleicht nur ich mich selbst? Auch hier: Stille! Ich reiße das Fenster auf, um Teil des nächtlichen Sounds der Großstadt zu werden – die Stille empfinde ich als laut. Ich mach Musik an, und vorher selbstverständlich das Fenster zu, um die Nachbarn nicht zu stören. Die Nachbarin klopft am nächsten Tag an meiner Tür, stellt mir ihr neues Baby vor und bittet vorab, schon mal zu entschuldigen, falls das Kind mal schreie. Ich sage nur: „Echt kein Problem, das Kind soll schreien, es stört mich nicht, das gehört doch zum Leben.“

Gedankenreisen zurück

In Gedanken geht’s zurück nach Tepoztlán: Dort war ich von einer ständigen Geräuschkulisse umgeben. Die Musik des Nachbarn, das Bellen der Dorfhunde, das Zirpen der Grillen, aus Muscheln entlockte Klänge zum Einläuten einer indianischen Zeremonie trugen mich in den Schlaf. Auch mal das Gröhlen eines Besoffenen oder die Serenata eines schmachtenden Verehrers. Partys mit Mariachi- und Bandamusik, so laut, dass die Wände meines Zimmers wackelten, waren die Seltenheit, aber durchaus möglich. Zum Glück bin ich lärmresistent und habe mich einfach über das Leben da draußen, das laute Miteinander, die großen Gefühle, den gelebten Rausch gefreut. Angemeldet war die Party natürlich nicht.

Im Café blieb ich nie lange allein. In Mexiko wird man sofort, meist auf eine nette und ehrlich interessierte Art, angesprochen, eingeladen. Manchmal war ich genervt, im Café nicht einfach mal in Ruhe arbeiten zu können – jetzt vermisse ich das. Neulich saß ich in einem Stuttgarter Café alleine an meinem Tisch, neben mir weitere Leute alleine an ihrem Tisch. Das blieb auch so. Man hat ja sein Handy. Ich vermisse diese Kultur der Offenheit und des gegenseitigen Austausches, den natürlich fließenden Umgang miteinander.

Die Distanz zwischen Deutschland und Mexiko beträgt fast 10.000 Kilometer, die in ca. zwölf Flugstunden überbrückt werden – doch es ist zu wenig Zeit, mental in einer völlig anderen Welt, der Heimat, anzukommen. Der Körper schon in Deutschland, der Geist hinkt irgendwie noch staunend hinterher. Und man fühlt sich ein gutes Stück weit innerlich zerrissen.

Wanderer zwischen den Welten

In den Folgetagen immer wieder diese Eindrücke: Perfekte Menschen, Stille und Sterilität. Perfektionierte Abläufe, Schnelligkeit und Effektivität. Die neue Edeka-Bahnhofsbox To Go am Stuttgarter Hauptbahnhof – Verkäufer werden da schon nicht mehr benötigt, nur Konsumenten, die den Einkauf vor Ladenschluss aufgrund ihres Arbeitspensums nicht mehr schaffen. Man gewöhnt sich schleichend dran, aber man hinterfragt es. Mittlerweile entfährt mir im Café kein „Gracias“ mehr, „Danke“ ist wieder Standard. Der Blick in die Schuhe, wo sich ein Skorpion verstecken könnte, wird seltener. Funktionierende Duschen, sogar mit Warmwasser, gilt es zu genießen, auch die unglaubliche Auswahl an Backwaren und Käsesorten. Was habe ich Maultaschen in Mexiko vermisst! Seit einigen Tagen ist außerdem Schluss mit der Ruhe in meiner Wohnung: In meiner Nachbarschaft wird gerade ein Haus abgerissen, um durch ein moderneres ersetzt zu werden. Der Fortschritt legt sein Krachen und Hämmern über die Stille und ich denke „Vielleicht hätte ich mich nicht gar so sehr über die Stille beklagen sollen?“.

Ein längerer Auslandsaufenthalt in einem anderen Kulturkreis verändert den Blick auf die Dinge. Was zeitlebens als normal und selbstverständlich, als nicht veränderbar, angesehen wurde, wird nun aus einer Distanz betrachtet, welche die Dinge hinterfragen lässt. Man fühlt sich als Wanderer zwischen den Welten. Flexibilität und Anpassungsvermögen ist gefragt. Deutschland und Mexiko können viel voneinander lernen. Mexiko könnte sich ein Stückchen von der deutschen Arbeitsmoral und Disziplin abschneiden, Deutschland von der mexikanischen Lebenslust und Herzlichkeit. Ein mexikanisches Sprichwort besagt: „So groß deine Probleme auch sein mögen, lächle.“ Mexikanische Lieder verpacken traurige, schwere Worte in lebenslustige Melodien. Probleme werden ausgetanzt. In diesem Sinne fühle ich mich nicht nur als Wanderer, sondern auch als Vermittler zwischen zwei Welten.

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