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Bernadette
Viele Jahre lang habe ich davon geträumt, vom und …
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Heimat - Kann sie überall sein?
Einige behaupten, „Heimat“ sei identisch mit dem Ort, an dem man geboren ist. Aber kann man sie nicht auch an einem neuen, fremden Ort finden, dort, wo man Heimatgefühle am wenigsten erwartet? Ob in Genuas stinkenden Gassen, auf einer Mini-Insel auf den Kapverden oder im Nirgendwo auf Neufundland – meine Reisen führen mich immer wieder an besondere Flecken Erde, wo ich mich plötzlich zu Hause und geborgen fühle. Und wo liegt eure Heimat?
Es war einmal in Genua
Die Fenster meines Airbnb stehen weit offen, ich lausche den Ziehharmonikamelodien, die von sechs Stockwerken tiefer zu mir heraufdringen. Ich bin wieder da. In den Vicoli, den Gassen Genuas. Dem Ort, wo ich begann, „Heimat“ zu spüren statt es im Duden nachschlagen zu müssen. Fast acht Jahre ist es her, dass ich im Slalom um Ausscheidungen von Hunden und Menschen sowie anderen Bodenbelägen eine düstere Bude inmitten der Gassen erreichte, die ich Zuhause nannte. Es war keine Liebe auf den ersten Blick zwischen Genua und mir. Ein echt unterbezahlter Job und eine richtig verschimmelte Wohnung machten meinen Traum vom Dolce Vita zunichte.
Viele verstehen nicht, warum ich mich doch in Genua verliebte. Warum ich gerne wiederkomme. Doch ich spüre die Antwort, während ich durch die Gassen schlendere, die morgens zum Leben erwachen. Jalousien werden an Geschäften aufgezogen, man tauscht von Fenster zu Fenster Grüße aus, wenn die Fensterläden gleichzeitig aufklappen. Über die Feuchtigkeit und den Schmutz der Gassen legt sich ein Duft von Focaccia und Espresso aus den Bars, wo die Leute reden, als wären alle Zuhörer schwerhörig.
Und dann gibt es Genua Nervi, meinen Lieblingsstadtteil. Vom zentralen Bahnhof Brignole sind es nur drei Stopps mit der Bahn: Sturla, Quarto, Quinto. Nach Sturla eröffnet sich rechts der Meeresblick. Spätestens da konnte ich immer durchatmen, das Dolce Vita doch erahnen. Denn Nervi hat den schönsten Bahnhof der Welt, mit Bahnsteig direkt überm Meer. Von dort spaziert man die Promenade entlang, Passeggiata Anita Garibaldi, die sich über den Klippen an die Felsen schmiegt. Am winzigen Steinstrand am Ende versammeln sich bei Sonne Fischer und ihre Frauen. Noch lieber als am Strand saß ich allerdings auf den Klippen, sommers wie winters, bei jedem Sonnenstrahl. Manchmal im T-Shirt mitten im Januar. Schaute über das glitzernde Mittelmeer, sah Fähren zu, die nach Korsika oder Algerien ausliefen. Und dachte bald, dass es keinen schöneren Ort zum Wohnen gäbe.
Mitten im Atlantik
Heimat und das Meer haben für mich seitdem häufig eine Verbindung. Ich bin auf einem Eiland mitten im Atlantik – auf Santo Antão, einer der neun bewohnten Kapverdischen Inseln. Auf der Landkarte sind sie leicht zu übersehen, so unscheinbar sind sie. Punkte im Atlantik, 570km vor der Westküste Afrikas. An der Nordküste wandere ich eines frühen Morgens von Ponta do Sol durchs Gebirge und entlang der Steilküste in Richtung Cruzinha. Als Erstes erreiche ich das Dorf Fontainhas inmitten der kargen Berghänge. In diesem Moment lugt die Sonne über die Berge, und Wolken rollen wie Wellen über die Berggipfel. Ich schaue dem Naturschauspiel mit offenem Mund zu. Die bunten Häuschen von Fontainhas klammern sich an die Felsen, unter denen sich terrassenförmige Felder aneinanderreihen.
Am Dorfeingang begrüßt mich schwanzwedelnd ein Hund, der mich fortan begleitet. Bei jedem Fotostopp wartet er geduldig auf mich. Der Wunsch kommt in mir auf, das liebe Tier anzuleinen, zum Entwurmen und Impfen zu bringen und für immer an meiner Seite zu haben. Doch nach meiner nächsten Trinkpause in einer kleinen Hütte ist der Hund weg. Ich fühle mich einsam, hatte sogar schon begonnen, mit dem Tier zu sprechen und Pläne für unser Mittagessen zu machen. Stattdessen picknicke ich allein, auf Steinen überm tosenden Atlantik. Ich schaue eine Stunde lang aufs Meer. Einfach so. Spüre die Gischt auf dem Gesicht. Komme zu dem Schluss, dass Ärzte und Psychologen weniger Arbeit hätten, wenn wir alle häufiger am Meer sitzen würden.
Lange denke ich darüber nach, wie blöd ich bin, einen wilden, glücklichen Hund an mich binden zu wollen. Ist es nicht genau das, was ich für mich auch will – frei sein und nur so viel meines Weges mit einem anderen teilen, wie ich möchte? Trotzdem werde ich diese winzige afrikanische Insel immer auch mit einem Hund verbinden. Und mit den Menschen, die ich dort kennengelernt habe. Dann, ganz plötzlich, ist es wieder da. Dieses Gefühl, ein kleines bisschen verwurzelt zu sein. Einfach deshalb, weil ich mich so geborgen an dem Ort fühle, an dem ich gerade bin.
Heimat heißt Freisein
Wieder habe ich den Ozean zu meiner Linken und den zweitältesten Leuchtturm Neufundlands am Cape Spear vor mir. Ich stehe in der Nähe des östlichsten Punktes vom nordamerikanischen Kontinent, und weit draußen auf dem Meer schmilzt ein Eisberg in der Sonne. Ich laufe ein Stück weit den East Coast Trail hinunter, der insgesamt noch gut 200 Kilometer misst. Der Weg besteht nur aus Schlamm oder Holzbrettern, schlängelt sich durch Felder und Wälder voller Weihnachtsbäume. Mit jedem Schritt spüre ich, dass ich etwas verbrenne. Nicht allzu viele Kalorien, dafür aber Sorgen.
Das Gefühl verstärkt sich wenige Tage später an der Westküste Neufundlands, als ich eine 16 Kilometer lange Wanderung auf den 800 Meter hohen Gros Morne Mountain in Angriff nehme, den zweithöchsten Berg Neufundlands. Steinig und irre steil steht er vor mir. Ich setze einfach einen Fuß vor den anderen, den Blick auf den nächsten Stein gerichtet. Irgendwann bin ich oben, setze mich hinter einen Felsen, geschützt vor den Blicken anderer Gipfelstürmer. Vor mir entfaltet sich das Bergpanorama, eine Landschaft, die wie selbstverständlich auf den Horizont zurollt. Ein wenig Schnee klammert sich noch die Abhänge, links glänzt ein Bergsee in der Sonne. Ich höre lediglich das Rauschen des Windes und in weiter Ferne Wasser plätschern. Ein paar Wolken werfen schnelle Schatten auf die Landschaft, dann sind sie verschwunden. Ich schaue zu, wie eine kleine Spinne an meinem Bein hochkrabbelt, und ein Käfer macht es sich auf meinem Ärmel bequem. Ich werde zum Teil ihrer Natur. Wieder einmal bin ich angekommen. Zu Hause. Und warum? Ganz einfach, weil ich mich wohlfühle. Und das ganz allein und frei. Dann plötzlich ist es mir klar: Heimat beginnt für mich immer dort, wo ich mich frei fühle. Und für dich?