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Bernadette
Viele Jahre lang habe ich davon geträumt, vom und …
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Ein Sommer bei Nomaden: Zuhause in Kirgistan
Homestay bei echten Nomaden – das erschien mir bis zu meiner Reise nach Kirgistan unmöglich, ist aber im Herzen Asiens mittlerweile Gang und Gäbe. Es ist ein Sommerurlaub der besonderen Art: Besucher wohnen in einer Jurte bei einer Nomadenfamilie, die von Juni bis September mit ihrem Vieh in den Bergen verbringt. Wer Glück hat, erlebt dabei sogar ein Horse Games Festival.
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Allgemeine Reiseinfos
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Geschichten aus Kirgistan
Ormon, der am Steuer des Fahrzeugs mit Allradantrieb sitzt, tritt zum Rhythmus kirgisischer Musik aufs Gaspedal, den Blick starr auf dem Schotterweg. Mein Blick wandert über kahle Berge hinter sattgrünen Feldern, über Menschen auf Eseln, weidende Pferde und einen Fluss. Plötzlich tritt Ormon auf die Bremse. Mitten auf dem Weg stehen Yaks. Große, gehörnte Rinder mit Zottelfrisur, die es in Zentralasien häufig gibt. Für Ormon sind die ungekämmten Biester ganz normal, für mich der Moment, als ich wirklich in Kirgistan ankomme.
Wir sind auf dem Weg zum Song Köl See auf über 3.000 Metern Höhe, dem zweitgrößten See Kirgistans. Richtige Häuser nehmen ab, dafür gibt es umso mehr helle Jurten, bewohnt von Hirten, umgeben von deren Vieh. Ab September müssen sie abbauen und in die Städte oder Dörfer zurückgehen, denn dann wird die Landschaft, die sich im Sommer wie ein welliger grüner Teppich ausbreitet, zum Feind des Menschen. Ab Oktober fällt meist Schnee und ermächtigt sich sämtlicher Pässe. Doch jetzt liegt der Song Köl See in strahlendem Sonnenschein glitzernd vor uns, ein zahmes Meer unterhalb ferner Berggipfel und umarmt von alpinen Weiden, Jailoos. Ein Schlaraffenland für Pferde, Schafe und Ziegen, die hier vier Monate lang gratis futtern.
„Seit mehr Touristen kommen, kommen weniger Hirten“, gesteht Ormon. „Touristen und Vieh, das passt nicht gut zusammen“. Doch die Hirten hätten auch das Potenzial der ausländischen Besucher erkannt und vermieteten nun fast alle ein paar Betten in ihren Jurten. An Besucher wie mich. Dank CBT, Community Based Tourism, das Transport und Touren organisiert. Das Beste dabei: Das Geld geht an die besuchten Gemeinden, an Fahrer wie Ormon, Hirten, die Betten zur Verfügung stellen, an Pferdeführer und jeden Kirgisen, der mit von der Partie ist.
Ziegenfußball und was die Kirgisen sonst so treiben
Dass ich ausgerechnet an einem Tag am Song Köl See ankomme, als dort ein Horse Games Festival startet, ein landestypisches Event rund um Pferde, ist ein glücklicher Zufall. Außer mir sind etwa 200 weitere Besucher dort, doch die Natur bietet genug Platz für alle. Zur Einstimmung gibt‘s Musik – zwei Frauen spielen kirgisische Komuz, eine zwei- oder dreisaitige Langhalslaute, eine Art Ukulele zum Zupfen, die anderen Gruppenmitglieder Akkordeon oder eine kleine Trommel, dazu kommt Gesang. Dem folgt ein Tanz junger, elfengleicher Frauen in weißen Kleidern und mit spitzen roten Hüten auf dem Kopf.
Danach geht es zum Teppichworkshop. Aufwendige Werke entstehen aus einem Schafspelz, der weichgeklopft und mit bunten Wollstücken dekoriert wird. Die Kunst nennt sich Ala Kiyiz-Stil, wobei jede Farbe ihre Symbolik hat: „Rot steht für Blut, Blau für Himmel und Grün für Erde“, übersetzt ein junger Mann aus dem Kirgisischen. Ist das Muster fertig, übergießt man es mit heißem Wasser und rollt den Teppich ein. Dann wird oft stundenlang darauf herumgetrampelt, damit alles fest wird. Auch beim Brotbacken können Besucher helfen: Boorsok, eine fettgebackene Teigmischung, in drachenförmige Stückchen geschnitten und in kochendem Öl frittiert.
Neben dem Topf bauen Männer gerade eine Jurte auf – aus einem runden Holz- und Metallgerüst mit Holztür. Schnell ziehen die Männer Matten um das Untergestell und werfen Baumwoll- und Filzdecken übers Gerüst. Fertig sind die Wände. Da könnte sich Ikea noch ein Stück abschneiden.
Endlich sind die von allen neugierig erwarteten Pferdespiele an der Reihe. Im Internet habe ich gelesen, dass eine Art Fußball mit einem Ziegenkadaver gespielt wird. Ein Spieler der beiden Teams aus etwa zehn Personen, hoch zu Ross, reitet mit dem kopflosen Körper einer schwarzen Ziege heran, wirft ihn auf den Boden. „Das Spiel heißt Ulak-Tartysh und existiert seit Jahrhunderten in Kirgistan“, erklärt ein Kommentator die Regeln, die an Fußball erinnern. Mit dem Unterschied, dass die Männer auf Pferden sitzen und sich statt Ball einen Kadaver abringen und ins improvisierte Tor fallenlassen. Wer gewinnt, bekommt die Ziege. Wir werden Zeugen, wie die Männer schreiend um den gut 25 Kilo schweren Körper kämpfen, bis er endlich ins Tor plumpst. Als wir den Spielstand längst aus den Augen verloren haben, ist das Spiel zu Ende und einer der Männer zeigt strahlend den Kadaver, den sein Team gewonnen hat. Weitere Spiele zu Pferd folgen: Engish und Tiyin Engmei, wobei zwei halbnackte junge Männer miteinander ringen.
Die erste Jurten-Nacht
Die Zeit reicht gerade noch für ein Bad im See, der Mitte Juli etwa so kalt ist wie die Nordsee im Mai, nur, dass er statt Sand Bergkulisse und die jurtengesprenkelte Steppe als Aussicht bietet. Tagsüber waren es an die 30 Grad heiß, doch ab dem späten Nachmittag sinken die Temperaturen in den einstelligen Bereich. Ich wohne beim Hirten Altenbak, in einer Jurte mit zehn über den Boden verteilten Matratzen. Außer mir ist nur ein älteres französisches Paar geblieben, alle anderen wollten nach dem Spektakel in die Stadt zurück. Zu komfortablen Betten, Telefonverbindung und WiFi, die es hier draußen nicht gibt. Altenbaks dreijährige Tochter Ramiya nimmt mich bei der Hand und deutet in verschiedene Richtungen, als wollte sie mir die Schönheit ihrer Umwelt so erklären. Die Schönheit der welligen grünen Weite und den sich in der Abendsonne dunkel färbenden See. Altenbak ist mit seinen Pferden, Schafen und Ziegen hier, dankbar, dass er den Sommer über kein Futter für sie kaufen muss.
Bald steht der Mond blass am Himmel, während die Sonne hinter Wattewolken verschwindet. Der nachmittags spiegelglatte Song Köl wird nun vom Wind zerzaust, Wellen rollen über den schmalen Kieselsteinstrand. Ein einsamer Esel und eine Ziege beobachten mich beim Abendspaziergang. Mein Handy ist angenehm still. Ich genieße das Alleinsein mit der Weite Zentralasiens, beneide die Nomaden ein bisschen, die immer dorthin ziehen, wo sie die momentan besten Lebensbedingungen finden.
Der Neid vergeht nach einer Minute auf dem Plumpsklo, das mit Tausenden von Fliegen zu teilen ist, und ich unter einer dünnen Decke auf meiner Matratze liege. Draußen friert es und trotz Thermounterwäsche, dicken Socken und Pyjama will mir einfach nicht warm werden. Es gibt nur eine Lösung: Ich ziehe die Decke eines leeren Bettes zu mir rüber. Das letzte, was ich im Schein der Taschenlampe sehe, ist mein aufsteigender Atem, doch bald bin ich eingeschlafen. Zum ersten Mal in einer Jurte, vor Wind und Kälte geschützt durch bunt gemusterte Stoffwände und ein dickes Fell. Vollkommen komfortabel weit außerhalb der Komfortzone.
Die Kehrseite
Bald lerne ich Mirdin kennen, meinen Guide, der mich per Pferd zur nächsten Jurte und Tage später zurück ins Tal bringen soll. Der 21-jährige IT-Student arbeitet in den Sommerferien für CBT, da er Englisch und ein wenig Französisch spricht. Zwei braune Pferde stehen gesattelt vor den Jurten. Zwar habe ich kaum Pferdeerfahrung, aber in Kirgistan nicht zu reiten, wäre wie Karnevalfeiern ohne Kostüm. Immer stärker werdender Regen treibt uns an, Mirdin ergreift die Zügel meines galoppierscheuen Hengstes und wir fliegen über die Steppe. Ich schlage hart auf dem Sattel auf, echtes Freiheitsgefühl lässt noch auf sich warten. Glücklicherweise ist es nicht weit zum zweiten Jurtencamp weiter westlich am See, wo die nächste Hirtenfamilie auf mich wartet. Keiner spricht mehr Englisch, Mirdin ist Übersetzer. Eine bestimmt Achtzigjährige in Strickjacke, Kopftuch und mit Rosenkranz in der Hand mustert mich, dann legt sich ihr Gesicht in Falten. Sie grinst. „Babushka“, erklärt sie auf Russisch, dass sie die Oma sei. Ihre Tochter kocht am kleinen Ofen der Familienjurte, daneben steht die separate Essjurte für Gäste. Mirdin und ich bekommen eine gemeinsame Jurte zum Schlafen zugewiesen.
Zu Mittag gibt es Tomaten- und Gurkensalat, als Hauptgericht fettige Kartoffeln mit fettigem Schaf. Mirdin und ich sitzen allein am Tisch, er rührt im Teller. „Ich bin der Jüngste in meiner Familie, und bei uns muss sich der Jüngste später um die Eltern kümmern“, erzählt er. Das sei fair, weil nur der Jüngste von den Eltern erbe. „Wenn ich heirate, muss meine Frau auch für meine Eltern kochen.“ Ich frage ihn, ob er selbst bald heiraten und Kinder haben wolle. „Noch nicht, aber es ist wichtig, Kinder zu bekommen, denn wer soll sich sonst im Alter um einen kümmern?“ Nach dem Essen schaue ich zu, wie meine Gastmutter und ihr Sohn die Stuten melken. Aus Stutenmilch wird in Kirgistan nicht nur Kymys gewonnen – fermentierte Stutenmilch –sondern man formt auch mit Vorliebe kleine Bällchen daraus, die als provisorische Zahnplomben dienen könnten.
Mein Verdauungsspaziergang verläuft anders als erwartet. Die strahlende Sonne gaukelt endlich Schönwetter vor, doch plötzlich ziehen schwarze Wolken auf, Wind peitscht das Seewasser hoch. Trotzdem laufe ich weiter, bis sich die Wolken erbarmungslos entladen. Da vernehme ich Hufentrappeln hinter mir. Zwei Kinder auf Pferden, die Wangen vor Kälte gerötet. „Jurta?“ Sie deuten auf weiße Punkte am Horizont. Ich erkläre ihnen mit ein paar Brocken Russisch, dass ich schon eine Jurte habe, bis sie enttäuscht davonreiten. Auch ein Schäfer mit seiner Herde bietet mir eine Jurte an. Auf dem Rückweg ohrfeigt mich der Hagel, das Paradies wird zur Hölle. Die grüne Weite, die zum Träumen verleitet, wird zur harschen Bergrealität.
Abschied
Meine Gastmutter und die Oma stehen vor ihrer Jurte, nehmen meine Hand in ihre. Sie haben mich herzlich und doch zurückhaltend aufgenommen, das Fehlen einer gemeinsamen Sprache steht zwischen uns. Mirdin erscheint wie immer in letzter Minute, es geht zurück auf die Rücken der Pferde. Ein etwa fünfstündiger Ritt über den Bergkamm Tuz-Ahuu bis ins Dorf Kyzart steht an. Auf 3.500 Metern passieren wir grün bewachsene Berglandschaften, der Song Köl See blinzelt uns noch lange nach. Endlich sind wir oben – auf der einen Seite erstrecken sich rollende Hügel bis zum See, auf der anderen liegt eine rötliche Felsschlucht, die an den Grand Canyon erinnert. Einige wenige Hirten reiten vorbei, Pferde sonnen sich auf Weiden, ansonsten gibt es kein Leben. Nur Weite und Stille und ab und an einen Windhauch. Es dauert, bis das Dorf Kyzart am Horizont erscheint. Eine spontane „Abkürzung“ von Mirdin beschert uns eine weitere Reitstunde.
Doch die Krönung wartet noch: Ein reißender Fluss, den wir durchqueren müssen, bringt die Pferde ins Straucheln, sie stehen bis zum Bauch im Wasser. Dass Reiten mein Lieblingssport wird, kann ich nach Kirgistan nicht sagen. Wohl aber, dass die Weite und Stille seiner Bergwelt, seiner Weiden und der jurtengepunkteten Landschaft süchtig machen. Und dass ich noch lange davon träume, in einer Jurte zu wohnen. Weit weg von allem, irgendwo im Zentrum der Welt.