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Bernadette
Viele Jahre lang habe ich davon geträumt, vom und …
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Der große, einsame Berg - Was ich beim Wandern in Neufundland lernte
Eigentlich bin ich kein Bergwanderer. Steile Bergwände voller Geröll, das man hochkraxeln soll, bewegen mich eher zum Umkehren als zum Losmarschieren. Und dann probiere ich es doch, in Neufundlands Gros Morne Nationalpark. Ich mache mich auf, den höchsten Berg des Parks, den Gros Morne Mountain, zu bezwingen – und bin überrascht, was mir der Aufstieg über das Wandern, mich und das Leben beibringt.
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Geschichten aus Neufundland
Tineke und Marieke Gow - Von den Niederlanden nach Neufundland
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Reisebericht
Es sind schlappe 16 Kilometer bis auf den nur 800 Meter hohen Gros Morne Mountain, den zweithöchsten Berg Neufundlands. Und doch wird die Wanderung auf den Gipfel als schwierigste im Gros Morne Nationalpark an der Westküste Neufundlands bezeichnet – bis Ende Juni ist sie wegen der unsicheren Wetterbedingungen sogar verboten. Wieso, verstehe ich erst, als ich nach vier recht gemütlichen Kilometern vor dem Berg stehe. Voll von losem Geröll und steil türmt sich die Bergwand vor mir auf. Warum tue ich mir diese Herausforderung überhaupt an? Ist es nicht gerade deshalb, weil ich eine solche, eine neue Herausforderung, möchte und die Komfortzone mal wieder verlassen muss? Bevor ich allzu lange nachdenken und es mir womöglich anders überlegen kann, stiefele ich los.
Der Weg
Es gibt keinen Weg auf den Berg, nur loses Gestein, mal größer, mal kleiner, das ständig in Bewegung ist. Ich setze vorsichtig einen Fuß vor den anderen und fixiere stets den nächsten Stein vor mir. Es liegt an ihm allein, ob ich ihn überschreite oder stolpere und womöglich ins Verderben falle. Mit der Zeit begreife ich, dass die kleineren Steine besonders heimtückisch sind. Mehrmals fürchte ich, das Gleichgewicht zu verlieren, aber ich fange mich immer wieder. Hochschauen, wie viel noch fehlt, ist ein Fehler, Zurückschauen ebenso. Die Zeit spielt keine Rolle mehr, das Ankommen auch nicht. Überleben, hier und jetzt, ist das Ziel.
Irgendwann komme ich oben an, kurz nach einer Wandergruppe, zu der auch eine Kanadierin namens Pam gehört. Sie hat mich unterwegs bereits angesprochen, wollte wissen, was ich ganz alleine in den Bergen mache und dass ich mutig sei. Ist es mutig, etwas zu tun, was einem eigentlich ein bisschen Angst macht? Vielleicht. Für mich ist es in erster Linie notwendig. Mit Pam und ihren Freunden esse ich ein Sandwich, doch der Sinn steht mir nach Alleinsein. Ich fühle mich, als hätte mir der Berg mit jedem Schritt etwas beibringen wollen, und es drängt mich, dieses „Etwas“ aufzuschreiben, bevor es mir durch die Finger rinnt.
Hinterm Stein
Weit unterhalb des Pfades erspähe ich einen Stein, der mich vor den neugierigen Blicken der anderen Gipfelstürmer schützt. Erschöpft lehne ich mich gegen ihn, vor mir das Bergpanorama und Grün bis zum Horizont, durchbrochen von einem blauen Bergsee und etwas Schnee, der sich noch an einen Hang klammert. Ich lausche dem Pfeifen des Windes und höre in weiter Ferne Wasser plätschern. Fliegen summen ab und zu durch die Luft, sind aber so schnell wieder weg wie die Wolken, die eilig vorbeiziehen.
Es ist schön, einmal so klein und unbedeutend zu sein wie die winzige Spinne, die an meinem Bein hochkrabbelt oder der Käfer, der es sich auf meiner Jacke bequem macht – und mich dennoch genauso zugehörig zu fühlen wie sie. Nachdem mein Atem gleichmäßiger geworden ist, nehme ich mein Notizbuch und schreibe auf, was mich der große, einsame Berg, wie der Gros Morne Mountain übersetzt heißt, beigebracht hat. Oder woran er mich erinnert hat.
Die zehn Lektionen des großen, einsamen Berges
1) Auf dem Weg zum Ziel kannst du nur einen kleinen Schritt nach dem anderen tun.
2) Du kannst nicht immer mit beiden Füßen fest auf dem Boden stehen. Aber versuche, den zweiten Fuß erst vom Boden zu lösen, wenn der erste festen Halt gefunden hat.
3) Wenn du zu weit vorausschaust und siehst, was noch kommt, erscheint die Strecke endlos und versetzt dich leicht in Panik. Schau nicht hin.
4) Auch wenn du zurückschaust und siehst, was hinter dir liegt, wirst du leicht schwindelig und verlierst deinen Fokus auf das, was ist und kommt.
5) Die kleinen Steine sind meist sehr viel rutschiger als die richtig großen. Pass bei ihnen besonders auf, sie bringen dich zu Fall.
6) Wenn du den Weg einmal begonnen hast, geht es nur in eine Richtung – weiter. Also hör auf, dir groß Gedanken darüber zu machen und genieß einfach die Reise.
7) Manchmal ist die Aussicht auf einer Zwischenstufe sehr viel schöner als die von oben – habe keine Angst, innezuhalten und auch sie zu genießen, statt gleich weiter zu wollen.
8) Nur, wenn du versuchst, zu schnell voranzukommen, gerätst du ins Stolpern.
9) Es ist so viel leichter, freundlich zu anderen Menschen zu sein, wenn du genau verstehst, was sie gerade durchmachen.
10) Selbst das mieseste Brot mit dem schmierigsten Käse und halb schimmeliger Wurst schmeckt fantastisch, wenn du es nach einem mühsamen Aufstieg oben auf einem Berg verzehrst. Ergo: Je härter du kämpfst und desto weiter du kommst, desto weniger brauchst du.
Später am Abend, als ich kurz vor Sonnenuntergang am Lobster Cove Head Lighthouse bei Rocky Harbour sitze, lasse ich die Lektionen im Kopf noch mal Revue passieren. Ja, ich habe es heile wieder von dem großen, einsamen Berg runter geschafft. Und bin ganz sicher, dass ich jetzt mal öfter Berge rauf und runter kraxeln werde. Weil es so gut tut, etwas auszuprobieren, was den täglichen Routinen so fern liegt. Und weil ich gemerkt habe, dass ich nur lernen kann, wenn ich mich für das öffne, was ich noch nicht kenne und was mir gewisse Angst bereitet.