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Ina
Gebürtig aus dem Ruhrpott, zog es mich seit jeher …
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Caleta Tortel – ein patagonisches Dorf auf Holzpfählen
In der Region von Aysén, im südlichen Chile, endet die berühmte „Carretera Austral“, der Highway, der Entdeckungsfreudige seit einigen Jahrzehnten durch die unberührten Gebirgsregionen Patagoniens führt. An ihrem Ende: Caleta Tortel, ein kleines Dorf, das nur auf Pfahlgerüsten steht, gelegen an einer türkisfarbenen Bucht, hinter der die unergründlichen Weiten der Inseln- und Fjordwelt des Pazifiks beginnen.
Die Straße führt noch bis auf den großen Platz am Ortseingang, dann ist Schluss: Hier müssen alle Fahrzeuge geparkt werden, denn es geht nicht weiter. Nach einer Straßenbiegung hört die „Carretera Austral“ abrupt auf – die Route, die der chilenischen Regierung so viel Zeit und Nerven gekostet hat und die nach und nach die touristische Erschließung Patagoniens ermöglicht, obwohl sie weder asphaltiert noch ganzjährig durchgängig befahrbar ist. 1955 gegründet, ist Caleta Tortel erst seit 2003 durch den Straßenausbau auf den letzten paar Kilometer bis an die Bucht auch wirklich an das Straßennetz angeschlossen. Im Dorf geht es nur zu Fuß weiter, denn die kleinen Häuser, die entlang der Bucht gebaut wurden, sind über Holzstege miteinander verbunden. Etwa sieben Kilometer der sogenannten „pasarelas“ ziehen sich am Wasser entlang und in einer Vielzahl von Treppen an den bewaldeten Klippenhängen hoch. Bei Regen verwandeln sich die Holzstege in eine extrem rutschige Oberfläche, und selbst die regenerprobten Einwohner sind gegen den ein oder anderen „Ausrutscher“ nicht gefeit. Aber natürlich haben sie ihren kleinen Trick: Im Kiosk kann man Gummistege erstehen, die sich als Anti-Rutsch-Maßnahme unter die Schuhsohlen klemmen lassen. Als Besucher sollte man wissen, dass Niederschläge in Caleta Tortel fast ganzjährig an der Tagesordnung sind. Selbst der trockenste Monat September kommt auf gut 130mm Niederschlag. Zum Vergleich: Berlin erhält in seinen feuchtesten Monaten nur knapp die Hälfte an Regen.
Eine facettenreiche Welt aus Holz
Das detailreiche, holzgeschnitzte Willkommensschild am Ortseingang lässt auf die Berufung der Einwohner schließen: Die Arbeit mit Holz in all seinen Facetten wird hier als Meisterkunst betrieben. Begabte Holzschnitzer fertigen kleine Kunststücke als Souvenirs für die Touristen an. Dabei findet sich von Schmuck über kleine Holzschatullen zu großen Statuen einfach alles, sogar ein in Holz graviertes Buch durfte ich bestaunen. Holz ist für die Einwohner die Überlebensquelle schlechthin - in vielfacher Hinsicht. Zum einen wird mit Holz geheizt und jeder ist davon abhängig, ständig einen angemessen, trockenen Holzvorrat zu haben. Dafür setzten die Einwohner regelmäßig mit dem Boot aus, um auf benachbarten Inseln Holz zu schlagen, vor allem die lokalen Baumarten „ñire“, „lengua“ und „ciprés“. Für den „Ciprés de los Gualtecas“ ist die Ortschaft berühmt. Schon seit jeher wird er rund um Caleta Tortel abgebaut und für den Bau weiterverkauft. Die gesamten Pasarelas von Tortel wurden ebenfalls aus diesem Holz gebaut. Um die langen Holzstämme möglichst einfach und sicher über die rutschigen Holzplanken und durch die Treppenlabyrinthe zu transportieren, entwickelten die Einwohner eine spezielle Technik, die „hombrear“ (schultern) genannt wird. Dabei werden jeweils zwei Holzstämme übereinander über eine Schulter gelegt und mit beiden Armen gesichert. Das Bild der an den Pieren hin-und herlaufenden, gebeugten Gestalten ist so typisch, dass es – wie sollte es anders sein - in Holzstatuen verewigt wurde. Nicht nur Männer müssen den Tragedienst erledigen, auch die Frauen tragen selbstverständlich das von ihnen benötigte Holz. Das Holzhacken – und schneiden ist fast tägliche Arbeit. Deswegen sollte man sich auch nicht erschrecken, wenn man des Abends einen Fremden mit Motorsäge in der Hand auf dem Steg trifft. Das ist aller Wahrscheinlichkeit nach kein Massenmörder, sondern nur ein erschöpfter Mensch, der das ausgeliehene Werkzeug zu seinem Nachbarn zurückbringt. Manch einem, der schon älter ist oder einfach nur am oberen Ende einer langen Treppe wohnt, ist diese Arbeit zu mühsam und er bezahlt sich einen Holzträger, der die gewünschte Holzmenge mit dem Boot bis an den Fuß der Treppe fährt und diese dann schultert und hinaufträgt.
Aber das Geschäft mit dem Holz hat nicht nur innerorts eine Bedeutung. Der Holzabverkauf in andere chilenische Städte und bis nach Argentinien ist immer noch im vollen Gange. Wenn einmal in der Woche das Fährschiff ins südlich gelegene Puerto Natales anlegt, liegt der ganze Pier schon voller Stämme, die auf den Frachter verladen und später im Süden verkauft werden. Das Schiff verkehrt seit 2016 und bietet eine spannende Möglichkeit, die Reise in den Süden fortzusetzen und dabei die eindrucksvolle Fjordwelt des südlichen Patagoniens kennenzulernen. Für die Einwohner hat sie zum einen die Reisemöglichkeiten stark verbessert, da es einen speziellen Tarif für sie gibt, mit dem sie nur die Hälfte der recht teuren Fahrkarte bezahlen. Zum anderen sind Lieferungen aus den größeren Hafenstädten im Süden Chiles, zum Beispiel Punta Arenas mit seiner Freihandelszone, viel einfacher und billiger geworden. Viele Produkte sind in Caleta Tortel aufgrund der isolierten Lage nicht verfügbar und die Lieferung bis „ans Ende der Straßen“ ist auf jeglichem Wege denkbar teuer.
Ohne Boot läuft nichts
Das Boot ist, aufgrund der Lage und der fehlenden Autos, das einzige Verkehrsmittel von Caleta Tortel. Zum Nachbarsbesuch auf der anderen Seite oder um die Kinder zur Schule zu bringen – fast jeder Haushalt besitzt ein kleines, motorgetriebenes Bötchen, „lancha“ genannt. Damit wird auch Holz herangeschafft, oder es geht zum nahegelegenen „campo“, dem Landhaus. Landhaus? Hier gibt es doch nur Berge und Fjorde? Als Land bezeichnen die Einwohner das Ufer des „Río Baker“, der gleich nördlich von Tortel in den Fjord mündet. Sein Wasser stammt aus den Gletschern und Schneefeldern der patagonischen Bergregionen und hat deswegen eine auffällig türkisgrüne Farbe, die auf seinen hohen Mineralgehalt hindeutet. Um auf ihr Landstück zu kommen, umrunden die Leute mit ihren kleinen Booten die Landzunge und steuern vom Fjord her flussaufwärts in den Baker-Fluss hinein. Auf den satten Wiesen am Ufer weiden Kühe und Rinder, die die Hauptnahrungsquelle des Dorfes darstellen. Es klingt ein bisschen paradox, aber tatsächlich konsumiert fast niemand Fisch, und ein Grillen auf der hauseigenen Feuerstelle bleibt, so häufig es auch stattfindet, das gesellschaftliche Nonplusultra.
Obwohl Caleta Tortel von Bergen umgeben ist, gibt es nur einen offiziellen Wanderweg. Er führt bis an die Spitze der Landzunge und dann über den oberen Teil der Klippe zurück bis an den Ortseingang, wo sich auch ein Aussichtspunkt befindet. Nur in der Nähe des Startpunktes und auf der Zielgeraden ist der Pfad mit Holzlatten ausgelegt, dazwischen artet die Wanderung an oder nach regnerischen Tagen schnell zu einer Schlammpartie aus. Die dort heimische Flora besteht überwiegend aus Moosen und Flechten, die viel Wasser speichern und deswegen auch Schwamm („esponja“) genannt werden. Beim versehentlichen Drauftreten steht der eigene Fuß sofort in einer kleinen Pfütze.
Als wäre das Dorf an sich nicht schon Attraktion genug, gibt es diverse Angebote für Touren zu den umliegenden Gletschern wie etwa dem „Glaciar O’Higgins“, der im gleichnamigen Nationalpark liegt. Die beliebteste dorfnahe Ausflugstour ist der Friedhof auf der Insel der Toten, der „isla de los muertos“. Auf dem sagenumwobenen Stück Erde in der Mündung des Río Baker stehen 33 verwitterte Holzkreuze, die die Geschichte eines historischen Dramas verewigen. Sie erzählen von dem mysteriösen Tod chilenischer Arbeiter, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts eine Holzfällersiedlung auf dem Gebiet des heutigen Dorfes errichteten und Theorien zufolge von den Versorgungsschiffen ihres Auftraggebers im Stich gelassen wurden. Wer sich für die Details der Geschichte interessiert, sollte sich den Comic anschauen, den lokale Künstler zu den verschiedenen Legenden rund um die „isla de los muertos“ gezeichnet haben und der zwei mögliche Varianten der Geschichte illustriert. Nicht zuletzt ist diese Geschichte auch die Geschichte der Isolation von Caleta Tortel, einer Isolation, die durch eine immer bessere Verkehrsanbindung und die Anreise entdeckungsfreudiger Touristen Stück für Stück gebrochen wird.